Die Agile Tour Vienna 2018 (von Ziegelsteinen und Frankenstein)

Thomas Hiebl
Dienstag, 30. Oktober 2018

Die heuer zum achten Mal stattfindende Agile Tour Vienna ist ein Event rund um das Thema Agilität in der Softwareentwicklung. Auch dieses Mal war das gebotene Programm erstklassig und mir fiel es mitunter nicht leicht, mich für einen der vier parallel stattfindenden Tracks zu entscheiden.

Die von Kevlin Henney gehaltene Keynote Agility ≠ Speed machte deutlich, dass das Event nicht der Selbstbeweihräucherung diente, sondern auch Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff Agilität bot. Eine der Kernaussagen war, dass Agilität nicht - wie oft vermutet - mit Geschwindigkeit gleichzusetzen ist. Denn stimmt die Richtung nicht, so bedeutet auch eine hohe Geschwindigkeit keinen Fortschritt, sondern man bewegt sich unter Umständen sogar vom Ziel weg. So ist es wichtig, im wiederkehrenden PDCA-Cycle (Plan-Do-Check-Act) bewusst zu „bremsen“ und ausreichend Zeit dafür zu reservieren, die aktuelle Position zu erfassen und den effizientesten Weg zum Ziel zu identifizieren.

“Why do cars have brakes? Cars have brakes so that you can go fast.  How fast would you drive a car without working brakes?”

Auch interessant fand ich die Aussage, dass diverse Teams in der Regel besser performen, da durch den unterschiedlichen Background der Teammitglieder ganz unterschiedliche Sichtweisen kombiniert werden.

Christian Hattinger von mySugr gab in seinem Talk Einblicke, wie das Unternehmen vom Startup zum reifen Unternehmen gewachsen ist, dabei aber seiner Firmenkultur treu geblieben ist. Herausgestrichen wurde unter anderem die Wichtigkeit einer Firmen-Vision, mit der sich alle Mitarbeiter zu 100% identifizieren können (“Does it get me out of the bed in the morning”), und die auch immer wieder hinterfragt und angepasst wird. Neben einigen Inspiration aus der recht bekannten Spotify Engineering Culture, geht es vor allem darum, Teams zusammenzuschweißen und möglichst nahe an den Anwender bzw. an das Problem zu bringen. Messbare, erreichbare Ziele in Form von OKRs (Objectives and Key Results) auf verschiedenen Ebenen und eine Kultur, das gelernte regelmäßig im und auch außerhalb des eigenen Teams weiterzugeben, sind ein weiterer Baustein einer erfolgreichen Organisation. Um beim Baustein zu bleiben: da es auch in einem noch so perfekt aufgestellten Unternehmen hin und wieder Probleme geben kann, gibt es als höchste Form der Eskalation einen (echten) Ziegelstein. Wird dieser dem Manager auf den Tisch (nicht Kopf!) gelegt, so ist sofort klar, dass es sich um ein ernstes Problem handelt.

In einem Talk von Rene Pachernegg wurden Learnings aus der mehrjährigen agilen Transformation des Unternehmens APUS präsentiert. So wurden zum Beispiel die Grenzen der Selbstorganisation erreicht, als Teams den agilen Prozess quasi abgeschafft haben, sodass heute Anpassungen nur mehr „reifen“ Teams ermöglicht werden. Timeboxing von Themen in Meetings (maximal 15 Minuten je Thema, wenn bis dahin keine Entscheidung wird Thema vertagt da noch nicht reif für eine Entscheidung) kann jeder in seine Werkzeugkiste mit aufnehmen, der unter ineffizienten Meetings leidet. Auch das Transparenz in einem Unternehmen nicht einfach so funktioniert, sondern eine Bringschuld ist, musste erst gelernt werden.

Von J.B. Rainsberger´s Talk hätte sich auch Frankenstein eine Scheibe abschneiden können, als erklärt wurde, wie man Menschen debugged. So sagt er:

“A person (often) feels motivated (enough to act) if…
… they know what to do
and they know what will happen
and they want that to happen”

Sollten Mitarbeiter also die ihnen aufgetragenen Tätigkeiten nicht erledigen, so kann man mit diesem Ansatz (oft) herausfinden, welche Gründe zu diesem Verhalten führen und entsprechend gegensteuern.

In einem weiteren Talk von mySugr erzählte Florian Hackl-Kohlweiß, wie das neue Office in Wien entstanden ist. Dieses Thema schien auf den ersten Blick nichts mit Agilität zu tun zu haben, war aber in mehrerlei Hinsicht äußerst interessant. Entwicklungs-Teams verbringen einen Großteil ihrer Zeit mit zwei Kerntätigkeiten: Kommunikation (Planung & Koordination) und konzentrierte Arbeit (Umsetzung). Diese Tätigkeiten widersprechen sich aber in den Anforderungen an ein Büro weitgehend. Im Talk wurde der von der „Eudaimonia Machine“ aus dem Buch „Deep Work: Rules for Focused Success in a Distracted World“ inspirierte Ansatz von mySugr präsentiert, bei dem es einerseits eigene Bereiche für jedes Team gibt, andererseits mehrere abgestufte Bereiche für „einfache“ Arbeiten bis hin zu den Chambers, in die man sich für „Deep Work“ zurückziehen kann. Auch interessant war der Aspekt, dass der vom Speaker selbst geleitete Bau des Office wie ein Software-Projekt angegangen wurde, mit einem Endprodukt (das Office), Benutzern (die eigenen Mitarbeiter) und mehreren Release-Phasen. Selbst Prototyping einzelner Teile des Office (z.B. Team-Bereiche) wurde direkt auf der Baustelle durchgeführt.

Thomas Pieber erzählte in seinem Talk vom Umgang mit hohen Unsicherheiten bei der Planung und Umsetzung von Projekten. Speziell im Bereich der Individualsoftware-Entwicklung ist dieses Thema von großer Bedeutung. Ein präsentierter Ansatz war, Themen mit großen Unsicherheiten gar nicht erst zu schätzen sondern den Spieß umzudrehen und (vom Management) entscheiden zu lassen, wie viel man in einem ersten Schritt für das Thema investieren möchte (INVEST anstatt ESTIMATE), um sich so iterativ mit überschaubaren Investments dem gewünschtem Ziel anzunähern. Eine interessante Alternative zum MVP (Minimum Viable Product) stellt der RAT (Riskiest Assumption Test) dar. Dabei werden die risikoreichsten Themen identifiziert und priorisiert, um Annahmen so früh wie möglich zu validieren und so Unsicherheiten zu reduzieren. Herausgestrichen wurde auch die Notwendigkeit, in Unternehmen auf allen Ebenen ein Bewusstsein für Unsicherheiten zu schaffen und dies auch klar zu kommunizieren.

Rückblickend war die heurige Agile Tour Vienna ein breit gefächerter Mix aus interessanten Themen, aus denen ich mir einiges mitnehmen konnte. Die Konferenz gehört für mich somit auch nächstes Jahr definitiv zum Pflichtprogramm.

Der Veranstalter hat eine Liste der Slides aller Vorträge sowie einige ausgewählte Videos zum Nachsehen auf folgender Seite zusammengestellt: https://github.com/agiletourvienna/agiletourvienna.github.io/wiki/Agile-Tour-2018

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